Östlich von Herne

Amsterdam im Neonlicht

Damals zum Abschied hattest du gesagt, dass es so nicht klappen kann. Wir wären zu jung und du hättest noch so viel vor. Was das war und warum du das alles nicht mit mir machen könntest – die Antwort bist du mir bis heute schuldig. Du wolltest erstmal nachdenken und dich selbst finden. Dabei hatte ich dir das Kreuz für das Ziel der Reise riesengroß auf mein Herz tätowiert. Hatte dir die Brotkrummen direkt vor die Füße geworfen, aber gesehen hast du sie nie. Bist lediglich drüber gelaufen und hattest immer wieder nach dem richtigen Weg durch deine Studienzeit gesucht.

Ankommen. Dich selbst finden. Zwei Aussagen, die dein Paradigma, dein Pamphlet waren. Du mantrarisiertest sie zum Exzess. Du warst auf der Suche nach dir selbst, aber suchtest doch nur in der dir scheinbaren Tristesse der anderen um dich herum. Tristesse. Ein Wort, das du nur zu gerne verwendet hast. Für die Stadt und die Menschen um dich herum. Du wolltest Sex and the City auf dem Set eines Rosamunde Pilcher Films. Die Stadt wurde dir zu kleingeistig oder du der Stadt zu oberflächlich. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem. Du tauschtest Freundschaften gegen Bekanntschaften und tiefe Gespräche gegen den Smalltalk an der Bar.

Immer wieder stand ich dir zur Seite. Hoffte, dass du erkennen würdest, was du mir bedeutetest. Kümmerte mich um dich. Deine Seele. Deine Gedanken. Deine Lust zu Leben. Eigentlich immer – aber ganz besonders dann, wenn dir die Neonlichter keinen Halt mehr gaben. Der Alkohol verflogen war. Und die kleinen weißen Bahnen abgefahren. Jedes Mal. Jedes verdammte Mal flickte ich dich wieder zusammen. Nahm dir die kruden Gedanken ab. Und das Versprechen, dass du dich bessern würdest. Dann gingst du wieder. Ein Kuss auf die Wange. Ein gehauchtes bis bald. In meinem Kopf ein komplettes Leben ausgemalt. In deinem bereits schon wieder die Suche nach der nächsten Party.

Nicht, dass dir die Party das Geringste gebracht hätte. Sie diente einzig deinem verzweifelten Versuch deine Existenz, dein Überleben, vor dir selbst zu rechtfertigen. Du bekämpftest deine innere Leere mit einer anonymen Masse um dich herum. Versuchtest soviel wie möglich von der Masse, in den wenigen Stunden der Nacht, in denen du bei Besinnung warst, in dir aufzunehmen. Du konntest es dir und den wenigen Menschen, die dir noch geblieben waren, nicht eingestehen, dass du dich auf deinem Weg hoffnungslos verrannt hattest. Das Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit war für dich schlimmer, als das eventuelle Platzen der durch Pillen und Puder erzeugten Seifenblase in deinem Kopf.

Verlust und Einsamkeit, hervorgerufen durch eigene Fehler, manifestiert sich nur zu oft in einem blinden Hass auf alles um einen herum. Ein Hass der oft genug wiederholt in der eigenen kleinen Welt zur Wahrheit wird und eine fast unüberwindbare Distanz, zu jeden der einem helfen könnte, aufbaut. So wurde auch bei dir erst der Kontakt mit den anderen und dann irgendwann auch der zwischen uns weniger. Bis du dich gar nicht mehr gemeldet hast und man dich nur noch mit zuckenden Augen früh morgens auf den Tanzflächen dieser Stadt sah.

Mittlerweile wohnst du wohl irgendwo östlich von Herne. Wurde mir zumindest zugetragen. Aber irgendwann wirst du mir die Geschichte dazu noch erzählen. Denn auch östlich von Herne gehen irgendwann die Neonlichter aus, wird der Alkohol alle und es gibt keine kleinen weißen Bahnen mehr. Dann wirst du dich wieder melden und ich, obwohl ich es besser weiß, werde für dich da sein. Auch wenn du danach wieder weglaufen wirst. Aber wenn ich ehrlich bin, keiner läuft so schön davon wie du.

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Ein Fehler

Wie die Brandung des Meeres dem Festland unermüdlich durch Landnahme bewusst machte, dass es immer noch da war, so kamen auch die Erinnerungen immer und immer wieder um ihm zu zeigen das sie nicht gehen würden. Erinnerungen an Zeiten die geprägt waren von Urlaub, Lachen und großen Kugeln Eis in noch größeren Waffeln. Erinnerungen an Zeiten die geprägt waren von langen Gesprächen und tiefen Wintern mit dunklen Nächten vor dem Kamin. Erinnerungen an Zeiten die geprägt waren von weißen Fluren und harten Stühlen. Erinnerungen an ein Leben das sein Leben maßgeblich geprägt hatte.

Erinnerungen an Zeiten im Sandkasten. An Burgen aus Sand und Playmobil-Ritter die sich gegen Drachen und Magier durchsetzten mussten. Erinnerungen an Sonnentage im Freibad. Mit Eis in der Hand auf der Wiese neben dem lebensgroßen Schachspiel. An die Angst vom 1-Meter Turm zu springen – nur um es dann Hand in Hand doch zu tun. Und danach immer wieder. Alleine. An simple Erklärungen für komplizierte Dinge. An ein strahlendes Lächeln.

Erinnerungen an die erste Liebe und die Taschentücher danach. An kraftvolle Worte. Gutes Schweigen. An das Knistern des Kamins. Erinnerungen an den ersten Kater und heilende Hausmedizin. An weniger telefonieren und mehr sagen. An schöne Urlaube und spontane Besuche. Erinnerungen an zweistellige Geburtstage und Piratenkuchen. An immer leckeres Essen. An kluge Ratschläge und Finanzspritzen. An offene Ohren.

An ein Lächeln. Erinnerungen an Wünsche und Wahrscheinlichkeiten. An Ausflüchte und Selbstbetrug. Erinnerungen an schwere Worte und langes Warten. An Hoffnungen und Seifenblasen. An ein mattes Lächeln. Erinnerungen an Realität und den stechenden Schmerz von Weiß in den Augen. An Tränen und Wahrheit. An schwache Umarmungen und leise Sätze. Erinnerungen an zitternde Hände und schwere Löffel. An desinfizierte Flure. An kahle Köpfe und leere Augen. An letzte Worte. An einsame Zimmer und letztendlich leere Betten.

Erinnerungen an ein Fehler. Eine Person. Ein Leben. An jemanden der nicht mehr da und gleichzeitig soviel mehr ist.

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Wir melden uns erst wenn wir etwas sind im Leben

Das Licht war schummrig. Ich stand im halbdunklen Licht der verrosteten und zum Teil ausgefallenen Straßenlaternen, unweit der alten Schnellstraße, einige Kilometer außerhalb unseres Dorfes. Nur selten wurde die Umgebung für wenige Sekunden erleuchtet. Immer dann, wenn ein Autofahrer die falsche Abzweigung genommen hatte und jetzt nicht die neue Autobahn, sondern die alte, in die Jahre gekommene Schnellstraße mit ihren ewig vielen Schlaglöchern, befahren musste. In diesen Sekunden konnte man erahnen warum wir früher oft hier gewesen waren. Schemenhaft sah man die Jahrzehnte alten Obstbäume, die sich über die Wiesen säumten und erst kurz vor dem alten Baggersee an einem Sandstrand endeten.

Wie viele Sommer hatten wir hier jedes Wochenende verbracht? Sind zusammen in den alten, klapprigen Fiat gestiegen – mit jeder Menge schlechtem Dosenbier, löchrigen Zelten und Ravioli – um für zwei Tage die Welt anzuhalten und uns selbst zu feiern. Wir waren gerade volljährig geworden und dachten, die Welt stünde uns offen. Nur uns. Nur wir. Zusammen. Für immer. Was sollten Studium, Arbeit und Familienplanung schon unserer Freundschaft entgegensetzen können? Wir stießen an – auf Eroberungen, die letzte Party oder das vorherige Bier. Genossen es einfach nur da zu sein. Im Hier. Im Jetzt. Schoben die Planung für das danach einfach immer weiter vor uns her.

Aber irgendwann war auch das Abi geschrieben und die Ferien neigten sich dem Ende. Unsere Studienpläne ließen uns schon bald in alle Himmelsrichtungen und die hintersten Winkel des Landes ziehen, um dort Dinge zu studieren deren Existenz den anderen nicht einmal bewusst war. Wir verabredeten uns ein letztes Mal im Spätsommer an dem von uns geliebten Strand. Mit Dosenbier, löchrigen Zelten und Ravioli. Wollten noch einmal die Zeit anhalten und zurückspulen. Die Clique feiern. Unsere Witze, Visionen und Erinnerungen konservieren. Die Zukunft vergessen. Die Angst verdrängen. Ein letztes Mal Leben – vor dem Leben.

Wir versprachen uns Anrufe, Nachrichten, Besuche, sogar Briefe und halfen uns gegenseitig beim Umzug. Am Anfang noch alle, bis dann der Letzte alleine mit seiner Familie den kleinen Laster packen musste und ohne Abschiedsaufgebot unser Dorf, unsere Heimat, unser Zuhause verließ. Unsere Versprechen, so gut und ehrenhaft sie gewesen sein mögen, so offensichtlich waren sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Der Kopf verdrängt halt, was er nicht jeden Tag sieht. Ob wir das wollen oder nicht. Aus besten Freunden wurden Freunde und aus Freunden wurden Bekannte. Man sah sich auf die vom Don und Daniel proklamierten obligatorischen „Vier Getränke im Jahr“ und versprach sich die gleichen hohlen Phrasen – bis man gar nicht mehr kam oder versprach.

Jetzt, Jahre später, frage mich was aus uns geworden ist. Wann haben wir damit angefangen Erfolg über Freundschaft zu stellen und unser Zuhause über die Heimat. Während ich an dem alten Strand stehe, zum X-ten Jahrestag unseres Abschieds, genau an dem Punkt der den Anfang vom Ende markiert, muss ich erkennen dass die Schuld keinen Einzigen von uns alleine trifft. Das Leben verschiebt Prioritäten und lässt die Dinge die man nicht täglich sieht schnell in Vergessenheit geraten. Lässt uns nur erst dann wieder zu Wort kommen, wenn wir etwas geschafft haben. Nur dann ist es oft zu spät. So wie jetzt. An unserem alten Strand. Hier, im schummrigen Licht ist zwar alles wie immer. Wie früher. Konserviert. Archiviert. Nur leider auch verstaubt und vergessen.

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Von Steinen und Hölzern

Obwohl ich mich auf dich konzentrieren wollte, schweiften meine Gedanken immer und immer wieder ab. Ich erfreute mich an dem wunderbaren, perfekt geschnittenen, du würdest ihn vermutlich einen englischen nennen, Rasen und war gleichzeitig davon fasziniert, dass man Muster in einen Rasen mähen konnte. Ich mein Fußballfelder sehen von oben schon cool aus. Wie ein Schachbrett… Ein Niesreiz brachte mich zurück zu uns auf den Rasen, zwischen die ganzen Steine und das viele Holz um uns herum. Das Holz schien dich verschluckt zu haben. Vor wenigen Minuten noch hatte ich dich direkt vor mir gesehen und jetzt warst du scheinbar hinter der Eiche nur ein paar Meter vor mir verschwunden und nicht mehr in meinem Blickfeld.

Die Geräusche der Umgebung wurden wieder leiser und mein Kopf begann von neuem damit abzuschweifen… Wieso eigentlich hatten wir noch nie miteinander Fußball gespielt? Ich mein wir “kennen” uns jetzt praktisch mein ganzes Leben und soweit ich mich erinnere haben wir nie auch nur eine Runde zusammen auf dem Bolzplatz verbracht. Das war inakzeptabel. Ich fügte meiner inneren TODO Liste einen weiteren Punkt hinzu und setzte das Fälligkeitsdatum auf spätestens in 100 Jahren. Schon wieder ein Niesreiz. Dieser gepaart mit dem Gedanken an eine 100 ließen mich zurück in das hier und jetzt kommen. Ich dachte, dass du es dir endlich mal gemütlich gemacht hättest und hinter der Eiche auftauchen würdest. Aber du warst immer noch verschwunden. Wie langsam sich manche Leute bewegen konnten war mir schleierhaft, aber du warst ja auch stadtbekannt für deine unmenschliche Faulheit. Alles koordiniertest du, nichts wurde selbst gemacht.

Selbst jetzt, wo dich scheinbar keiner in meiner Umgebung hören oder sehen konnte, koordiniertest du sie alle. Alle taten was du von ihnen verlangtest. Früher hast du auch immer probiert zu koordinieren. Wobei kommandieren das wohl bessere Adjektiv wäre, zumindest laut Mama. Wenn sie von dir redet. Jedoch hat das Kommandieren damals von einem Tag auf den anderen aufgehört. Seitdem habe ich, trotz der Streits und der Ungerechtigkeit davor, darauf gewartet, dass du nach dem die Tür hinter dir zuschlug irgendwann wieder kommen würdest. Aber das Einzige was mir blieb war das Holz der Tür. Stundenlang habe ich davor gesessen, die Maserungen gezählt und probiert nachzuzeichnen. Ich konnte sie mir immer wieder ansehen. Täglich. Das plötzliche Verschwinden der Eiche im Erdboden vor mir brachte mich zurück in die Realität. Dem Holz der Tür würde nun bald ein Stein folgen.

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