Kurzgeschichten

Während die Glastür hinter ihm langsam ins Schloss klickte, suchten seine Augen nach einem geeigneten Sitzplatz. Nicht zu verdeckt, aber auch nicht zu offen. Ihr Lieblingsplatz war noch frei. Hinten links unter dem Dali Bild. Nicht wegen der Geborgenheit, sondern weil sie Dali mochte. Er setzte sich auf die Bank unter die allseits bekannte Zeitinterpretation und bot ihr somit die Möglichkeit, wenn er mal wieder schwadronierte oder wenn sie gerade einfach nicht reden wollte, das Bild zu studieren. Ein kurzer Blick auf seinen Unterarm sagte ihm, dass er zu früh war. Auf den beim Betreten des Cafes bestellten Milchkaffee wartend, las er wie jeder Mensch ohne konkrete Aufgabe die Benachrichtigungen seines Smartphones.

Keine besonderen Vorkommnisse: Twitter hier. Instagram da. Ein paar belanglose Whatsapp Chats. Lustlos scrollte er sich durch seinen Facebookfeed. Stefanie war jetzt verheiratet. Hochzeit auf Schloss Bückeburg und Flitterwochen auf Lanzarote. Zum zweiten Mal. Können die zweiten Flitterwochen so toll sein wie die ersten, wenn man im gleichen Hotel wohnt? Am besten noch im gleichen Zimmer. „Oh der Schreibtisch quietscht immer noch …“, er musste bei dem Gedanken grinsen. Steffi. Sie war schon immer etwas anders gewesen als der Rest. Durchgeknallt und seine erste große Liebe. Aber wie es mit fast allen ersten Dingen ist. Irgendwann sind sie weg. Meistens bevor man sie richtig hatte. So auch bei Steffi. Er hatte ihr immer erzählt, er wolle mal ein großer Autor werden. „Arbeitslos“, hatte sie dann immer geantwortet. Nach zwei Jahren hatte er keine Lust mehr gehabt auf den immer gleichen Witz und war gegangen. Hatte nur einen Zettel geschrieben: Bin weg. Schöne Grüße. Quatsch. Mein Liebes – Fick dich. Der Autor. Er grinste immer noch. Wie einige Jahre aus Hass auf einmal Humor machen können.

Mittlerweile dampfte der zweite Milchkaffee neben ihm auf dem viel zu eckigen Tisch. Wer baut eigentlich Tische im Oktagon-Format? Ständig stieß er sich eine der Kanten in seinen Magen oder einen der beiden Unterarme. Gerade als er die Frage bei Quora posten wollte, betrat sie das Cafe. Schlichtes Top, weite Sommerhose, Chucks. Er winkte ihr leicht zu, um sich bemerkbar zu machen. Sie grinste und warf ihre Tasche und Jacke auf den Stuhl neben ihm. „Du, ich muss mal eben … Aber ich hab die neue Neon dabei. Ließ dir mal die 30 Fragen durch.“ Er schaute etwas verdutzt. Während sie schon wieder weg war, nahm er die Zeitschrift aus ihrer Tasche und schlug den Artikel auf. Erste Frage: „Wie habt ihr euch kennengelernt?“. Sein Finger auf der Frage liegend hob er leicht den Kopf und starte gedankenverloren in die Leere des Cafés.

Ob er noch wusste, wie sie sich kennengelernt hatten. Natürlich. Kurz nachdem Katrin ihm eröffnet hatte, dass es an ihr liege und nicht an ihm. Katrin. Noch heute hatte er bei dem Gedanken an sie ein Kantholz im Rachen und musste schlucken. Dieser Sommer. Dieser eine Sommer, den wohl jeder Student in seiner Unilaufbahn hatte. Perfektion gepaart mit billigem Schnaps und von Sternen durchtränkten Nachthimmeln auf Wiesen und Feldern. Von Zeit zu Zeit ertappte er sich dabei, wie er noch immer an sie dachte. Er schluckte und starte auf die Menschen vor dem Fenster neben dem Eingang des Cafes. Emsig suchten sie nach Geschenken für ihre Liebsten. Morgen war Valentinstag. Sie war die erste und letzte Person gewesen, der er etwas zum Valentinstag geschenkt hatte. Schmuck. Was sie mit einem „Etwas Unpersönlicheres hättest du nicht finden können, oder?“ kommentierte. Im Kopf warf er ihr immer noch 150 1-Euro-Münzen einzeln mit voller Wucht in ihr wunderschönes Gesicht.

„Überlegst du etwa immer noch?“, fragend stand sie vor ihm und sah seinen Finger auf der Frage liegen. Überlegen? Er erinnerte sich. In ihrem dunkelgrauen Kleid hatte er sie das erste Mal gesehen. Damals. Auf der Decke im Park. Zwischen Freddi und Sabine. Andy hatte ihn eingeladen auf eine, Jahre später von Kraftklub so schön besungene, undefinierte Anzahl von Schnäpsen. Man hatte sich schon länger nicht gesehen und das sechste Semester musste gebührend beendet werden. Pfeffi. Weißwein. Vereinzelte eine halb volle Flasche Pils. Die Diskussionen drehten sich um Klausuren. Vergangene Bekanntschaften. Alkoholeskapaden und den Wunsch unbedingt in diesem Sommer ins Freibad einzubrechen. Sie war relativ ruhig gewesen. Hatte immer wieder an den Etiketten ihrer Flaschen genibbelt und der Musik aus dem nahegelegenen Pub zugehört. Unzählige Pfeffis später, als es Zeit wurde zu gehen und im Schutze der nur vereinzelt funktionierenden Laternen, flüsterte sie ihm bei der Verabschiedung ein leises „Freibad?“ ins Ohr. Schiefes Grinsen auf beiden Seiten. Sich überschlagende Gedanken. Ein leichtes Nicken. Vorfreude.

Vor dem Freibad stand leider schon die lokale Polizei und wies freundlich auf die Öffnungszeiten hin. Die Bestechung durch Pfeffi wollte auch nicht so wirklich zünden. Sie beschlossen, dass eine Badewanne ja auch nur eine verkleinerte Form eines Freibads ist und schwankten Arm in Arm in Richtung ihrer Wohnung. Dort angekommen schafften sie es aber nur bis auf den Balkon. Das Bad war belegt. Über die Dächer der Stadt und in die langsam aufgehende Sonne blickend, unterhielten sie sich bis die Stadt schon lange wieder wach war. Das erste was er nach dem Wachwerden sah, war ihr Gesicht: schief auf dem Stuhl hängend und leicht grinsend. Er war sofort verliebt gewesen.

Während er immer noch gedankenverloren irgendwo zwischen Zapfhähnen und Kellnerin in die Leere des Lokales blickte und sie ihm sanft in die Wange stupste, brachte die Kellnerin die überfälligen Gin-Tonics. Vermutlich eher die alten, eben ohne Gurke Gelieferten, nochmal. Diesmal allerdings mit Gurke. Erfreut hob sie zum Anstoßen ihr Glas „Auf unser 5-Jähriges!“ Die Gedanken beiseite schiebend begann er zu grinsen und hob ebenfalls sein Glas: „Here’s looking at you, kid.“

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Östlich von Herne

Amsterdam im Neonlicht

Damals zum Abschied hattest du gesagt, dass es so nicht klappen kann. Wir wären zu jung und du hättest noch so viel vor. Was das war und warum du das alles nicht mit mir machen könntest – die Antwort bist du mir bis heute schuldig. Du wolltest erstmal nachdenken und dich selbst finden. Dabei hatte ich dir das Kreuz für das Ziel der Reise riesengroß auf mein Herz tätowiert. Hatte dir die Brotkrummen direkt vor die Füße geworfen, aber gesehen hast du sie nie. Bist lediglich drüber gelaufen und hattest immer wieder nach dem richtigen Weg durch deine Studienzeit gesucht.

Ankommen. Dich selbst finden. Zwei Aussagen, die dein Paradigma, dein Pamphlet waren. Du mantrarisiertest sie zum Exzess. Du warst auf der Suche nach dir selbst, aber suchtest doch nur in der dir scheinbaren Tristesse der anderen um dich herum. Tristesse. Ein Wort, das du nur zu gerne verwendet hast. Für die Stadt und die Menschen um dich herum. Du wolltest Sex and the City auf dem Set eines Rosamunde Pilcher Films. Die Stadt wurde dir zu kleingeistig oder du der Stadt zu oberflächlich. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem. Du tauschtest Freundschaften gegen Bekanntschaften und tiefe Gespräche gegen den Smalltalk an der Bar.

Immer wieder stand ich dir zur Seite. Hoffte, dass du erkennen würdest, was du mir bedeutetest. Kümmerte mich um dich. Deine Seele. Deine Gedanken. Deine Lust zu Leben. Eigentlich immer – aber ganz besonders dann, wenn dir die Neonlichter keinen Halt mehr gaben. Der Alkohol verflogen war. Und die kleinen weißen Bahnen abgefahren. Jedes Mal. Jedes verdammte Mal flickte ich dich wieder zusammen. Nahm dir die kruden Gedanken ab. Und das Versprechen, dass du dich bessern würdest. Dann gingst du wieder. Ein Kuss auf die Wange. Ein gehauchtes bis bald. In meinem Kopf ein komplettes Leben ausgemalt. In deinem bereits schon wieder die Suche nach der nächsten Party.

Nicht, dass dir die Party das Geringste gebracht hätte. Sie diente einzig deinem verzweifelten Versuch deine Existenz, dein Überleben, vor dir selbst zu rechtfertigen. Du bekämpftest deine innere Leere mit einer anonymen Masse um dich herum. Versuchtest soviel wie möglich von der Masse, in den wenigen Stunden der Nacht, in denen du bei Besinnung warst, in dir aufzunehmen. Du konntest es dir und den wenigen Menschen, die dir noch geblieben waren, nicht eingestehen, dass du dich auf deinem Weg hoffnungslos verrannt hattest. Das Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit war für dich schlimmer, als das eventuelle Platzen der durch Pillen und Puder erzeugten Seifenblase in deinem Kopf.

Verlust und Einsamkeit, hervorgerufen durch eigene Fehler, manifestiert sich nur zu oft in einem blinden Hass auf alles um einen herum. Ein Hass der oft genug wiederholt in der eigenen kleinen Welt zur Wahrheit wird und eine fast unüberwindbare Distanz, zu jeden der einem helfen könnte, aufbaut. So wurde auch bei dir erst der Kontakt mit den anderen und dann irgendwann auch der zwischen uns weniger. Bis du dich gar nicht mehr gemeldet hast und man dich nur noch mit zuckenden Augen früh morgens auf den Tanzflächen dieser Stadt sah.

Mittlerweile wohnst du wohl irgendwo östlich von Herne. Wurde mir zumindest zugetragen. Aber irgendwann wirst du mir die Geschichte dazu noch erzählen. Denn auch östlich von Herne gehen irgendwann die Neonlichter aus, wird der Alkohol alle und es gibt keine kleinen weißen Bahnen mehr. Dann wirst du dich wieder melden und ich, obwohl ich es besser weiß, werde für dich da sein. Auch wenn du danach wieder weglaufen wirst. Aber wenn ich ehrlich bin, keiner läuft so schön davon wie du.

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Anderthalb

Die verwaschenen Klinker des alten Herrenhauses auf der anderen Straßenseite erinnerten ihn bei jedem Blick aus dem Fenster an ihre Haare. Rostrot. Braun. Meistens schob er den Gedanken einfach wieder zu Seite und widmete sich seinen Unterlagen, Skripten und Büchern. Oder wie der Volksmund sagt: ich geh Facebook. Hin und wieder aber, wenn die Sonne kurz davor war unterzugehen, ging er zum Fenster, setzte sich auf den kleinen Sims über der Heizung, zog die Beine an und versank, mit einer heißen Tasse schwarzen Kaffee in der Hand, in den Erinnerungen.

Wo die Erinnerungen an die vorherigen und anschließenden Semester geprägt waren von Straßenlaternen und verkaterten Klausuren, war dieses eine Sommersemester gezeichnet von kleinen Cafés in unscheinbaren Dörfern, Spaziergängen und Picknick mit Wein an den Ufern verschiedenster Seen der Region. Retrospektiv war jeder Tag ein perfekter Sommertag gewesen. Er konnte sich an jeden einzelnen erinnern. An die Gesprächsthemen und ihre mühsame Aussprache schwerer deutscher Wörter. An ihre Kleider und ihre Frisur. Daran wie die Sonne durch ihre leichten Locken strahlte wenn sie sich über ihn beugte und wie ihre Haare jeden Abend mit der Sonne um das schönere Rot gewettet hatten.

Auf seiner Fensterbank beobachtete er dann immer durch viel zu lang nicht mehr geputzte Fenster, wie die Sonne immer noch um das schönere Rot wettete, aber selbst gegen die verwaschenen Klinker von gegenüber verlor. Mit einem Schmunzeln hob er dann die dampfende Tasse an seine Lippen und trank einen kleinen Schluck Kaffee. Schwarz. Wie sie es immer getan hatte. Sein dunkles Geheimnis. So hatte er es getauft – obwohl jeder wusste, dass er mittlerweile keine Milch mehr in seinen Kaffee goß. Der Kaffee wärmte ihn von innen und erzeugte eine wohlige Gänsehaut.

Die gleiche Art von Gänsehaut die er gespürt hatte als sie das erste Mal zu ihm nach Hause gekommen war. Er hatte sie zum Essen eingeladen. Traditionelle deutsche Küche. Kartoffeln mit Spiegelei und Spinat. Nicht das komplizierteste Essen und auch nicht das deutscheste was er kannte – aber ihr schmeckte es und sie blieb. Auf dem Notausgangstritt vor seinem Dachfenster. Auf dem sie noch lange zusammen in die Nacht geredet, gelacht und getrunken hatten. Bis sie mit den Sonnenstrahlen und seiner Handynummer wieder zwischen den Fassaden der alten Gründerzeithäuser in seinem Viertel verschwand.

Er saß auch jetzt noch in diesem Viertel. Mit Kaffee in der Hand. An einem Fenster. Nur wohnte er nicht mehr unter dem Dach, sondern im zweiten Stock. Zwei Straßen weiter. Bessere Lage. Größere Wohnung. Etwas teuer. Warum er das getan hatte? Wusste er nicht so recht zu verorten. Es war im Wintersemester danach gewesen. Aus einer Laune heraus. Einer Eingebung. Einer Lust. Neues erleben. Unbekanntes entdecken. In gewohnter Umgebung. Retrospektiv vermutlich ein festhalten an ihr. Dem Neuen. Dem Unbekannten. In gewohnter Umgebung.

Eigentlich hatte er genug von Neuem gehabt. Neue Stadt. Neue Freunde. Neues Studium. Neuer Beziehungsstatus. Er wollte einfach in Ruhe studieren und das Leben Leben sein lassen. Aber plötzlich war da sie und wollte die deutsche Küche probieren. Aus einer dem Weltfrieden zuträglichen Stimmung heraus hatte er zugesagt und so wieder Freude daran gefunden neues kennen zulernen. Sie mochte seine Küche und er ihre Aussprache. Sie mochten die gemeinsamen Ausflüge an die Seen der Region. In die kleinen Dörfer mit den verwinkelten Gassen. Die Feste. Sie mochten die Zeit zu zweit, in der sie ihm zeigte wie man trotz vorhandenem Altlasten neue Unbeschwertheit genießen konnte und er versuchte ihr die richtige Aussprache von Finanzminister und Kabarettist beizubringen.

Irgendwann aber neigte sich auch das scheinbar längste ERASMUS Semester dem Ende zu und die schonungslose Planlosigkeit des Sommers wurde auf die bevorstehende Situation übertragen. Sie versicherten sich, dass die Entfernung zwar kompliziert – aber machbar sei. Die Fahrt zum Bahnhof verbrachten beide mit Schweigen und in eigenen Gedanken über die Zukunft verhangen sein. Falls sie miteinander geredet hatten, konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Nur der letzte Satz den sie, bevor sie in die ihm fremde Heimat fuhr, in sein Ohr gehaucht hatte blieb von diesem Tag: Nächsten Sommer sehen wir uns wieder.

Gedanken verloren rutschte er von der Fensterbank, schüttelte sich und ging in die Küche. Die dampfende Tasse Kaffee war leer.

Und der nächste Sommer wurde mittlerweile anderthalb.

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Drei

Den schwarzen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen. Nicht nur wegen des Regens, sondern auch damit niemand sein Gesicht sehen konnte – zwischen den kleinen heckenhohen Steinen die seinen Weg säumten. Er ging meistens im Regen hier her. Die Wahrscheinlichkeit alleine zu sein war größer wenn selbst das Wetter so trostlos war wie seine Gedanken. In seinen Händen hatte er immer die gleichen Dinge. Eine Kerze und einen Plastikumschlag. In diesem Umschlag war ein kleiner Notizzettel verpackt, auf dem er Wünsche und Träume niederschrieb um diese in den kleinen Rhododendron auf dem 3,5m² Beet zu hängen. Seine Medizin für sie. Sollte sie sie jemals nochmal brauchen.

Vermutlich aber schrieb er diese kleinen Zettel mittlerweile mehr für sich als für sie. Diese Heilungswunder aus drei bis sechs Wörtern. Jeder einzelne ein Eiland der Rettung. Erst hatte er sie nur zu Hause in eine Kiste gesteckt. Wollte sie ihr irgendwann als Wunschkiste schenken. Aber der kalte Winter vorletztes Jahr hatte ihm einen Strich durch seine Rechnung gemacht. Hatte ihre Reifen blockieren und sie daraufhin gehen lassen. Hatte seinen Boden durchlöchert und ihn dazu gezwungen von Insel zu Insel zu springen.

Kurz nachdem sie gegangen war, waren die Sprünge praktisch nicht zu bewältigen. Meist hatte er sich von den Wellen der Depression mitreißen und dahin treiben lassen. Hatte nirgendwo ankommen, sondern einfach nur leblos rumliegen und vegetieren wollen. Sein Leben durch maximale Entschleunigung maximal zu beschleunigen, um sie so schneller wiederzusehen. Nur selten drangen positiven Gedanken durch und schafften es, dass er zumindest ein paar Worte zu Papier brachte. Sie wurden für ihn wie ein Apothekerrezept. Immer wenn er eins ausstellte, wusste er er würde seine Medikamente brauchen. Jene Medikamente die nur sie hatte herstellen können.

Mittlerweile waren Jahre ins Land gezogen. Jahre in denen er seine Wunden probierte hatte vernarben zu lassen. Aber er konnte nicht. Immer wieder ertappte er sich dabei wie er den Schorf, der mühsam die klaffenden Risse überzog, versuchte abzukratzen. Wie der Fluss erst langsam und dann immer schneller aus ihm heraus pulsierte. Wie er merkte das ihm immer wieder schwindelig wurde. Wie er drohte umzufallen. Sich hinsetzen und nach Luft schnappen musste -weil er das Gefühl hatte sonst zu sterben. Seine Medikamente hatte er immer griffbereit. Konnte sich noch nicht davon trennen. Immer wenn er es wollte kamen die Attacken.

Es waren die Momente in denen er die Tür hinter sich zu warf. Ein Geruch seine Nase streifte. Er das rhythmische Prasseln des Regens wahrnahm. Die kleinen Situationen. Das Alltägliche. Die Situationen die nur zu zweit eine solche Bedeutung bekommen, das sie über eine Anekdote hinausgehen. Die Erinnerungen die mit der Wucht eines 40 Tonners durch den Kopf hämmern und auf dem Weg zur Kur den Wagen von der Straße fegen. Die kleinen Neutronensterne besiedeln und ihre Religion der Depression in jede Region des Gehirn tragen. Die Erinnerungen die Medikamente gegen die Wunden erforderten. Die Wunden die dann wieder aufplatzen. Die Medikamente die er noch nicht absetzten kann.

Sein Ketamin. Ihre Bilder. Sein Pflaster. Ihre Briefe. Sein Aspirin. Ihre Musik.

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Märzchen, du

Der kalte Winter war überwunden und in der leichten Wärme des Frühlings erwachten die Straßen der Stadt aus ihrem Winterschlaf. Die profitorientiertesten der lokalen Barbesitzer schoben die letzten Schneeflocken von den Gehwegen und stellten Tische und Stühle unter Sonnenschirme. Eine für den März doch leicht seltsam anmutende Tätigkeit. Aber der März ist eh ein seltsamer Monat – einer den man sich eigentlich schenken kann. Nicht mehr richtig im Winter angesiedelt, aber wegen des Aprils auch noch nicht im Frühling verortet. Ein „kann-aber-muss-nicht“ Ungetüm.

Trotz dieser Sonne hatte er den Kragen seines Mantels hochgestellt. So ganz vertraute er der wiedergewonnen Wärme dann doch nicht. Zu schnell konnte sich das Wetter in diesem Monat noch ändern. Im Slalom durch die Barbesitzer navigierend versuchte er leicht genervt, vom plötzlichen Trubel in der Stadt, seine Einkäufe vom Markt sicher nach Hause zu transportieren. Eier. Milch. Blaubeeren. Alles frisch. Wie damals. Sie hatte Pfannkuchen mit Blaubeeren geliebt. Am besten Sonntags im Bett mit einem starken Kaffee. Den Kaffee trank er mittlerweile alleine und auch die Pfannkuchenzutaten kaufte er eher wegen Pavlov und nicht aus Appetit.

Irgendwie hatte er es dann doch durch den Irrgarten von Stühlen, Tischen und Barbesitzern nach Hause geschafft und schaltete aus Reflex den Herd an, während er die Einkäufe im Kühlschrank verstaute. Gedankenverloren holte er die Waage aus dem Schrank. Wog das Mehl, schlug die Eier auf, rief wie gewohnt : mit oder ohne Zucker? und kam wieder in der Wirklichkeit an. Da war niemand mehr der hätte antworten können. Nur die leeren Wände, an denen einst Bilder gehangen hatten, welche ein Echo zurückwarfen das perfekt seine Gefühlslage spiegelte. Schlecht. Die 70qm waren trotz der Möbel praktisch leer. Übrig geblieben waren drei Zimmer, ein Balkon und ein Induktionsherd. Für einen alleine eigentlich zu viel. Für sie beide war es genau richtig gewesen.

Es hatte so gut begonnen. Seit langem endlich mal wieder jemand der mehr war als ein zungenverknotendes Geknutsche im Raucherraum der lokalen Disko oder ein vernebelter Fick nach einer Studentenparty. Schusseligkeit gepaart mit Intelligenz und einem Schönheitsideal der 70er Jahre. Mit der modernen Gesellschaft nicht ganz kompatibel aber für ihn perfekt. Sie war so etwas wie sein verlorener Zwilling gewesen. Seine Nanni. Sein Trick und Track. Seine Sandra. Er war mehr zufällig über sie gestolpert, als er im Park probiert hatte die Herbstsonne mit seiner Kamera einzufangen. So hatte er mit einer kaputten Kamera, aber einem super Gesprächseinstieg bis tief in die Nacht hinein auf ihrer Decke gesessen und über Wünsche, Hoffnungen und die aktuelle Staffel Community geredet.

Die darauffolgenden Gespräche wurden länger, intensiver und regelmäßiger. Aus Stunden wurden Tage. Aus Tagen wurden Monate und ein Jahr später war sie Dauergast in seiner Wohnung. Drei Zimmer. Balkon. Induktionsherd. Sie hatte mittlerweile dort ein wenig umgeräumt, hier ein wenig dekoriert und sein Leben vollkommen umgestellt. Hatte über ihre, über seine, über die gemeinsame Zukunft geredet. Hatte ausgemalt und in die Luft geschrieben. Hatte geschwärmt und Hoffnungen gemacht. Um dann einfach zu gehen, als sie keine Worte mehr fand. Als alles gedacht, geschwärmt und gesagt war. Ein Grund hatte sie ihm nie gegeben. Nur zwei Tragetaschen mit ihren Habseligkeiten mitgenommen und ihn zurück gelassen. Gefangen zwischen dem verrückten Nachbarn und einem kaputten Kühlschrank.

Sie war genauso wie der März nach einem kalten Winter. Zu viel um eine beste Freundin zu sein, aber zu wenig für eine dauerhafte Beziehung. Eine kann aber muss nicht Person. Ein Märzchen.

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Staub(ge)schichten

Mit dem ihm so vertrauten Klack schnappte das Schloss einmal zurück und ließ die Tür sanft aus dem Rahmen springen. Er atmete tief durch. Langsam, nur mit dem Zeigefinger drückte er die ausgeblichene, ehemals weiße und mit einem Vorhang verhangene Tür auf. Knarzend gab sie den Blick auf den dunklen Flur frei den er seit gut vier Wochen nicht mehr betreten hatte. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Die Tapete. Die Garderobe. Der Brandfleck im Parkett von den Wunderkerzen an Silvester. Alles war noch da wo es sein sollte. Relikte einer Zeit die so nicht mehr war. Nicht mehr sein würde. Einen tiefen Atemzug später stand er in der Wohnung. Zitternd. Die Hand immernoch an der äußeren Türklinke, zog er diese mit einem leichten Ruck nach hinten und machte den ihm so vertrauten Ausfallschritt nach Links, um dem Gewicht aus Holz und Glas aus dem Weg zu gehen. In pavlovscher Manier öffnete er im selben Moment den Mund, um die gleichen Worte wie immer an den dünnen Wänden in schlechten Echos und einem zu lauten Fernseher untergehen zu lassen – aber es blieb Still. Er bekam keinen Ton heraus. Da waren keine Echos und kein Fernseher. Nur sein kurzer, schneller Atem und die krachend hinter ihm ins Schloss fallende Tür.

Der Stillstand von vier Wochen war nur allzu deutlich wahrzunehmen. Niemand hatte gelüftet. Niemand hatte geputzt. Alles roch noch so wie er es verlassen hatte. Mit dem Finger über die kleine Kommode gegenüber der Garderobe fahrend, wirbelte er kleine Staubwolken auf die sich in ihrem Duft verloren und unbemerkt zu Boden gingen. Seine Gedanken verloren sich in diesem Eiland der Vergangenheit. Eines Abends hatte sie angefangen zu reden. Über ihre Vergangenheit. Ihre Geschichte. Hatte versucht ihn zu erklären warum sie in letzter Zeit so unnahbar gewesen war. Warum sie lieber nachts alleine durch die Stadt gelaufen war, anstatt mit ihm im Bett, auf dem Sofa oder dem Boden zu liegen. Hatte Skylar Grey zitiert und gesagt, dass sie gehofft hatte das es besser werden würde, weil es immer kurz vor der Dämmerung am Dunkelsten ist. Aber das die Dunkelheit immer stärker wurde und sie nicht glaube das die Dämmerung noch einmal kommen würde. Hatte Metapher um Metapher hervorgeholt um die Wahrheit noch nicht aussprechen zu müssen. Erzählte von den Jahren zuvor. Ihrer Harmonie. Ihrer Chemie. Ihrem grenzenloses Vertrauen. Ständig wiederholte sie was sie gehabt hatten. Nicht einmal bekam sie den Bogen in die Zukunft. Irgendwo im Labyrinth ihrer Wünsche und der Zeit hatte sie sich verlaufen.

Er nickte. Ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, führten seine Muskeln die seit Jahrtausenden für Zustimmung bekannten Bewegungen aus. Den Kopf erst heben und dann wieder senken. Heben. Senken. Heben. Senken. Er führte die Bewegung aus wie ein Wackeldackel. Beeinflusst durch seine Umwelt – ohne zu wissen warum. Zuhören konnte er nicht mehr. Sein Kopf hatte auf Leerlauf geschaltet. Auf Sahara und Antarktis zugleich. Er wollte ihr auf seinen Schultern den Ausgang aus dem Labyrinth zeigen, wusste aber dass auch das nicht würde helfen können, da ihr Kompass schon lange keine Nadel mehr besaß. So saß er stumm auf dem Sofa und nickte. Hörte ihr zu wie sie ihre wichtigsten Sachen zusammen packte und nickte. Hörte ihr zu wie sie sagte das sie nun erstmal zu einer Freundin ziehen würde und nickte. Hörte ihr zu wie sie die Tür hinter sich zu warf und nickte. Blieb noch lange einfach so auf dem Sofa sitzen, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Er saß einfach nur da und nickte. Völlig abgeschottet von der Welt.

Die Bilder verschwammen vor seinem geistigen Auge und ließen ihn auf den schwarzen leblosen Fernseher vor ihm blicken. Unbewusst war er zurück ins Wohzimmer gegangen. Vorbei an der Schrankwand. Vorbei an der Küche. Vorbei an dem quietschenden Sofa. Bis hin zum Fernseher in der Ecke. Eine dünne Staubschicht hatte sich auf dem Bildschirm gebildet, so dass das Bild darunter schlechter zu erkennen sein würde. Eigentlich wollte er nur seine DVDs holen. Stattdessen setzte er sich wieder aufs Sofa und starrte ins Nichts. Versuchte hier im Epizentrum den Grund für das Beben zu finden. Analyse um Analyse jedes vorgefallenen Streits führte er durch, aber nichts konnte ihre Handlung auch nur Ansatzweise erklären. Nichts konnte ihm sagen warum sie gegangen war, warum auch mehr Leuchtfeuer für den Weg zurück als es Strassenlatern in New York gab, keinen Sinn haben würden. Nichts konnte ihm erklären warum manche Gefühle einfach nicht mehr da sind. Genauso wenig wie er sich erklären konnte, warum seine damals da gewesen waren.

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