Anderthalb

Die verwaschenen Klinker des alten Herrenhauses auf der anderen Straßenseite erinnerten ihn bei jedem Blick aus dem Fenster an ihre Haare. Rostrot. Braun. Meistens schob er den Gedanken einfach wieder zu Seite und widmete sich seinen Unterlagen, Skripten und Büchern. Oder wie der Volksmund sagt: ich geh Facebook. Hin und wieder aber, wenn die Sonne kurz davor war unterzugehen, ging er zum Fenster, setzte sich auf den kleinen Sims über der Heizung, zog die Beine an und versank, mit einer heißen Tasse schwarzen Kaffee in der Hand, in den Erinnerungen.

Wo die Erinnerungen an die vorherigen und anschließenden Semester geprägt waren von Straßenlaternen und verkaterten Klausuren, war dieses eine Sommersemester gezeichnet von kleinen Cafés in unscheinbaren Dörfern, Spaziergängen und Picknick mit Wein an den Ufern verschiedenster Seen der Region. Retrospektiv war jeder Tag ein perfekter Sommertag gewesen. Er konnte sich an jeden einzelnen erinnern. An die Gesprächsthemen und ihre mühsame Aussprache schwerer deutscher Wörter. An ihre Kleider und ihre Frisur. Daran wie die Sonne durch ihre leichten Locken strahlte wenn sie sich über ihn beugte und wie ihre Haare jeden Abend mit der Sonne um das schönere Rot gewettet hatten.

Auf seiner Fensterbank beobachtete er dann immer durch viel zu lang nicht mehr geputzte Fenster, wie die Sonne immer noch um das schönere Rot wettete, aber selbst gegen die verwaschenen Klinker von gegenüber verlor. Mit einem Schmunzeln hob er dann die dampfende Tasse an seine Lippen und trank einen kleinen Schluck Kaffee. Schwarz. Wie sie es immer getan hatte. Sein dunkles Geheimnis. So hatte er es getauft – obwohl jeder wusste, dass er mittlerweile keine Milch mehr in seinen Kaffee goß. Der Kaffee wärmte ihn von innen und erzeugte eine wohlige Gänsehaut.

Die gleiche Art von Gänsehaut die er gespürt hatte als sie das erste Mal zu ihm nach Hause gekommen war. Er hatte sie zum Essen eingeladen. Traditionelle deutsche Küche. Kartoffeln mit Spiegelei und Spinat. Nicht das komplizierteste Essen und auch nicht das deutscheste was er kannte – aber ihr schmeckte es und sie blieb. Auf dem Notausgangstritt vor seinem Dachfenster. Auf dem sie noch lange zusammen in die Nacht geredet, gelacht und getrunken hatten. Bis sie mit den Sonnenstrahlen und seiner Handynummer wieder zwischen den Fassaden der alten Gründerzeithäuser in seinem Viertel verschwand.

Er saß auch jetzt noch in diesem Viertel. Mit Kaffee in der Hand. An einem Fenster. Nur wohnte er nicht mehr unter dem Dach, sondern im zweiten Stock. Zwei Straßen weiter. Bessere Lage. Größere Wohnung. Etwas teuer. Warum er das getan hatte? Wusste er nicht so recht zu verorten. Es war im Wintersemester danach gewesen. Aus einer Laune heraus. Einer Eingebung. Einer Lust. Neues erleben. Unbekanntes entdecken. In gewohnter Umgebung. Retrospektiv vermutlich ein festhalten an ihr. Dem Neuen. Dem Unbekannten. In gewohnter Umgebung.

Eigentlich hatte er genug von Neuem gehabt. Neue Stadt. Neue Freunde. Neues Studium. Neuer Beziehungsstatus. Er wollte einfach in Ruhe studieren und das Leben Leben sein lassen. Aber plötzlich war da sie und wollte die deutsche Küche probieren. Aus einer dem Weltfrieden zuträglichen Stimmung heraus hatte er zugesagt und so wieder Freude daran gefunden neues kennen zulernen. Sie mochte seine Küche und er ihre Aussprache. Sie mochten die gemeinsamen Ausflüge an die Seen der Region. In die kleinen Dörfer mit den verwinkelten Gassen. Die Feste. Sie mochten die Zeit zu zweit, in der sie ihm zeigte wie man trotz vorhandenem Altlasten neue Unbeschwertheit genießen konnte und er versuchte ihr die richtige Aussprache von Finanzminister und Kabarettist beizubringen.

Irgendwann aber neigte sich auch das scheinbar längste ERASMUS Semester dem Ende zu und die schonungslose Planlosigkeit des Sommers wurde auf die bevorstehende Situation übertragen. Sie versicherten sich, dass die Entfernung zwar kompliziert – aber machbar sei. Die Fahrt zum Bahnhof verbrachten beide mit Schweigen und in eigenen Gedanken über die Zukunft verhangen sein. Falls sie miteinander geredet hatten, konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Nur der letzte Satz den sie, bevor sie in die ihm fremde Heimat fuhr, in sein Ohr gehaucht hatte blieb von diesem Tag: Nächsten Sommer sehen wir uns wieder.

Gedanken verloren rutschte er von der Fensterbank, schüttelte sich und ging in die Küche. Die dampfende Tasse Kaffee war leer.

Und der nächste Sommer wurde mittlerweile anderthalb.

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Tintenmillionär

Aus dem Fundament der Strophen
Stampft er Zeilen aus dem Boden
Lässt sich leiten von Geschichten
Hängt sich rein in Anekdoten

Hat das Inken nie gelernt
Ist trotzdem Tintenmillionär
Mit Schablonen aus Gedanken
Malt er Bilder auf dein Herz

Wie ein Seelenklemptner seinen Wortschatzt aufgeschraubt
Ausgesaugt
Buchstabensalat aus einer Tütensuppe aufgebraut

Alles offenbart was er zu sagen hat
Phrasenschach
Silbenkauf bei Jeopardy
Geöffnetes Vokabelfach

Er greift in seine Kiste voller Zaubertricks wie Copperfield
Catch me if you can
Er kann den Doktor und den Zocker spielen

Lyrische Gedanken fließen aus ihm raus wie Peterstaler
Kribbeln in der Hand wie Finalgon die noch am Zewa dran war

Der Tintenmillionär baut sich ein Haus aus Bahlsens ABC
Vestehst du was ich meine wenn ich sag dass er am Zeiler dreht

Der Duden hat ihn reich gemacht
Wie Hebel bei nem Wall-Street Deal
Beim ersten Satz wird klar
Dass niemand sonst so dieses Wortspiel spielt

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Roadeo.de 2016 Edt.

Landau

1. Mai. Heimlich geht eine Webseite wieder online. Das Ende des Studiums, der Beginn der Vollzeitarbeit und die Androhung einer Klage hatten dazu geführt, dass die unter www.roadeo.de bekannte Webseite erst einmal offline war.

Nach reiflicher Überlegung wurde ein neues Konzept umgesetzt: Das Design wurde minimalistischer, das Logo prominenter, der Claim ging verloren, das Datum für egal befunden und die Kategorien zusammengemanscht.

Herausgekommen ist eine erwachsen gewordene Webseite mit dem Fokus auf das Wesentliche, den Kern unseres Schaffens hier auf Roadeo.de – das Wort, den Satz, die Buchstaben.

Die Postingfrequenz wird dennoch weiterhin so divers sein, wie die Auswahl an Produkten bei real.

Wir freuen uns aber trotzdem wenn ihr uns weiter besucht und hin und wieder mal reinschaut.

In dem Sinne
Die Verwaltung

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This town kills you when you’re young

This Town kills you when your young

Wenn der Himmel gnädig war und nicht zu viele Wolken herumschubste, sah man die Spiegelungen der Sonne in den Glasfassaden der Innenstadt bereits 30 Minuten bevor man die Stadtgrenze überquerte. Riesige Finger aus Stahl und Glas, die anmuteten wie eine greifende Hand, wirkten von Weitem, als wollten sie sich im Himmel fest krallen um die Stadt Stück für Stück in die Wolken zu heben. Wenn die Menschheit es schon nicht schaffte einen Turm bis in den Himmel zu bauen, muss man halt den Himmel auf die Erde holen. Monumentalismus als letzte Bastion des grenzenlosen Wahn nach Überheblichkeit.

Was von Weitem noch erhaben und mächtig, ja fast dominant wirkte, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein Mahnmal an längst vergangene Zeiten. Das Glas welches früher jeden einzelnen Finger wie ein Spinnennetz umspannte, lag jetzt als Splitterteppich in den untersten Stockwerken und tauchte die Adern aus blankem Stahl und nacktem, kalten Beton in ein gespenstisches Lichtermeer. Vereinzelt fand man noch verrottetes und zerschlagenes Mobiliar der ehemaligen Arbeitgeber in den sonst leeren Hallen der Großraumbüros. Tagsüber ein Paradies für Fotografen, war es ab den Abendstunden Zufluchtsort für die perspektivlose Jugend einer heruntergekommenen Stadt irgendwo im Nirgendwo.

Wie jeder in dieser Stadt war er zwischen zugezimmerten und wieder aufgebrochenen Betonschluchten und immer gefüllten Eckkneipen groß geworden. Leben hieß für ihn in der Bar um die Ecke Tequila stürzen und hin und wieder mit einem Barhocker auf andere Gäste losgehen. Er hatte es nicht anders gelernt. Arbeiten war für die Jugend ein Fremdwort gewesen. Man tat das nötigste um irgendwie an Geld zukommen aber verbrachte den Tag lieber damit sich zu betrinken, zu pöbeln und in Gebäude einzubrechen an denen gewarnt wurde das die Bausubstanz marode und das Betreten strickt untersagt war. Aber was kümmerten schon die verrosteten Schilder an kaputten Zäunen, wenn man wusste das es sowieso keiner kontrollieren würde.

So hatten sie auch an diesem Sommerabend, als alle Kneipen längst überfüllt waren und vergangene Träume in den letzten Schlücken der verkalkten Biergläser aufglommen, beschlossen den Abend mit 19 Cent Bier auf der verwilderten Dachterrasse eines 80 Stockwerke Mahnmals, dem größten der Stadt, zu verbringen. Zu dritt waren sie durch den Zaun geklettert und hatten sich durch das Gras einen Weg zu einem der Fenster auf der Rückseite gebahnt. Mit der Erfahrung unzähliger Einbrüche wurde der zugezimmerte Fensterschacht aufgebrochen und ins Innere geklettert. Das Licht der untergehenden Sonne drang gedämpft durch die Bretter und Löcher im Beton und bot ein gespenstisches Lichterspiel.

Ohne die Lichtspiele groß zu beachten wurde das vierte Bier geöffnet und auf den Abend angestoßen. Ein weiterer eingebildeter Kampf gegen die Obrigkeit und ihre längst zerfallene Macht war gewonnen und nun hieß es Kriegsbeute plündern. Spraydosen wurden ausgepackt um die vergilbten Wände mit pseudointelektuellen Sprüchen und Hasstiraden auf das System zu füllen. Ein paar Spraydosen und etliche Biere später waren sie auf dem Dach angekommen. Wo früher noch Afterwork-Partys gefeiert wurden, war heute nur noch der entfernte Krach der Kneipenschlägerein zu hören. Die zusätzlich einsetzende Dunkelheit welche nur von dem Licht des Mondes durchbrochen wurde schuf, in Verbindung mit den Ruinen um sie herum, eine Atmosphäre die jener aus den Endzeitfilmen der Stadt mit den großen Buchstaben zum Verwechseln ähnlich war.

Im Taumel des eingebildeten Sieges und vom Alkohol vernebelt wurde die bis tief in die Nacht gefeiert. Sie fühlten sich wie Don Quichotte – ohne jemals eine Windmühle gesehen zu haben. Sie dachten sie hätten den Krieg gewonnen, aber alles was sie geschafft hatten, war auf verbrannter Erde die Wahrheit durch Wahn und Manie in Alkohol zu ertränken. Die unvermeidbare Realität würde sie schneller einholen, als sie es sich hätten vorstellen können. Aber noch dachten sie etwas bewegen zu können. Eine Veränderung herbeizuführen. Das System von innen heraus zu stürzen. Aber ohne Perspektive, in einer Stadt ohne Zukunft, waren die Weichen schon gestellt bevor der Zug überhaupt den Bahnhof verlassen konnte.

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Der Spiegel

Der Blick führt in die Tiefe der Ungewissheit. Schmale nichts sagende Kanten verzieren eine fremde Landschaft. Eine Landschaft aus dichten Gräsern und steinigen Gebirgen. Ein erhellender Strahl aus Licht verirrt sich nur selten in jene Gebiete, welche von tiefer Trostlosigkeit bedeckt sind. Der schimmernde Glanz der Seen ist vollkommen erloschen. Ausgestorben und leer wird kein Ebenbild reflektiert. Es scheint, als würde Dunkelheit das ewige Leben zu Stein gemeißelt haben. Selbst ein Wimpernschlag besitzt weder die Kraft noch die Stärke, jenes schwarze Bild zu erhellen.

Wer bin ich? Ich bekomme keine Antwort. Tiefe Spalten lassen die Erde entreißen. Dichter Rauch legt sich über die Bergspitzen. Feurige Lava durchfließt den Erdkern und lässt den Boden erbeben. Die Flüsse werden unruhig, das Wasser steigt bedrohlich. Ein Sturm kommt auf – Lässt dichte Wälder entwurzeln und Fenster zu Glassplitter zerbersten. Die Gewalt der Natur hinterlässt ihre Spuren. Blutgetränkt liegen die Scherben am Grund. Eine gewaltige Zerstörung wohin das Auge nur blicken kann. Was mache ich hier? Noch immer bekomme ich keine Antwort.

Einzig und allein das helle Mondlicht zeichnet den Umriss der Landschaft. Die brennende Lava ist in den weiten Tiefen der Erde verschwunden. Der schwere Rauch zieht über die kantigen Berge, die Glut formt sich zu grauer Asche. Bitte hilf mir. Ich warte auf eine Antwort. Sekunden verstreichen. Minuten verstreichen. Es wird still. Tiefe Dunkelheit umgibt die Landschaft. Die Kraft des Windes schwindet dahin. Der Strom der Flüsse gibt nach und kommt letztlich zum Stillstand. Der Schleier der Finsternis fällt. Möge ich in Frieden ruhen.

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Ein Fehler

Wie die Brandung des Meeres dem Festland unermüdlich durch Landnahme bewusst machte, dass es immer noch da war, so kamen auch die Erinnerungen immer und immer wieder um ihm zu zeigen das sie nicht gehen würden. Erinnerungen an Zeiten die geprägt waren von Urlaub, Lachen und großen Kugeln Eis in noch größeren Waffeln. Erinnerungen an Zeiten die geprägt waren von langen Gesprächen und tiefen Wintern mit dunklen Nächten vor dem Kamin. Erinnerungen an Zeiten die geprägt waren von weißen Fluren und harten Stühlen. Erinnerungen an ein Leben das sein Leben maßgeblich geprägt hatte.

Erinnerungen an Zeiten im Sandkasten. An Burgen aus Sand und Playmobil-Ritter die sich gegen Drachen und Magier durchsetzten mussten. Erinnerungen an Sonnentage im Freibad. Mit Eis in der Hand auf der Wiese neben dem lebensgroßen Schachspiel. An die Angst vom 1-Meter Turm zu springen – nur um es dann Hand in Hand doch zu tun. Und danach immer wieder. Alleine. An simple Erklärungen für komplizierte Dinge. An ein strahlendes Lächeln.

Erinnerungen an die erste Liebe und die Taschentücher danach. An kraftvolle Worte. Gutes Schweigen. An das Knistern des Kamins. Erinnerungen an den ersten Kater und heilende Hausmedizin. An weniger telefonieren und mehr sagen. An schöne Urlaube und spontane Besuche. Erinnerungen an zweistellige Geburtstage und Piratenkuchen. An immer leckeres Essen. An kluge Ratschläge und Finanzspritzen. An offene Ohren.

An ein Lächeln. Erinnerungen an Wünsche und Wahrscheinlichkeiten. An Ausflüchte und Selbstbetrug. Erinnerungen an schwere Worte und langes Warten. An Hoffnungen und Seifenblasen. An ein mattes Lächeln. Erinnerungen an Realität und den stechenden Schmerz von Weiß in den Augen. An Tränen und Wahrheit. An schwache Umarmungen und leise Sätze. Erinnerungen an zitternde Hände und schwere Löffel. An desinfizierte Flure. An kahle Köpfe und leere Augen. An letzte Worte. An einsame Zimmer und letztendlich leere Betten.

Erinnerungen an ein Fehler. Eine Person. Ein Leben. An jemanden der nicht mehr da und gleichzeitig soviel mehr ist.

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